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Interview mit Prof. Dr. Gerold Kauert für MDR.de

Prof.Dr.GeroldKauert (Bild: http://www.laborundmore.com/research/8377/Prof.-Dr.-Gerold-Kauert.html)

Overath:  Herr Professor Kauert, Sie waren Gutachter im Magdeburger Verfahren wegen unterlassener Hilfeleistung gegen den Dienstgruppenleiter Andreas S.

Prof. Kauert: Ja. Ich wurde vom Landgericht Magdeburg als Sachverständiger geladen, nachdem der Bundesgerichtshof den Freispruch des Landgerichts Dessau aufgehoben hatte. Herr Prof. Dr. Bohnert nahm als Rechtsmediziner am Verfahren teil, er kannte meine wissenschaftlichen Arbeiten über körpereigene Stresshormone und hatte vorgeschlagen, dass ich  seine Laboruntersuchungen über die Messung von Stresshormonen beurteile. Bei der ersten Obduktion in der Rechtsmedizin der Universität Halle war Oury Jallohs Urin gesichert worden. Das war die Voraussetzung, die Werte von Adrenalin und Noradrenalin zu bestimmen, weil das Blut für diese Bestimmung nicht mehr brauchbar war.

- Was sind Stresshormone?

- Das bekannteste Stresshormon ist das Adrenalin, auch als Notfallhormon bekannt, weil es die Herztätigkeit bei Stress aufrecht erhält. Noradrenalin ist eine Vorstufe bei der Bildung von Adrenalin und soll den Blutdruck regulieren. Wenn ein Mensch zu Tode gekommen ist, sagen die Werte der Stresshormone Adrenalin und Noradrenalin etwas über die Dauer der Überlebenszeit aus. Das Adrenalin ist unter normalen physiologischen Bedingungen im Urin immer geringer als Noradrenalin konzentriert. Bei normalen Stresssituationen jedoch erhöhen sich diese Werte ca. um das zwei bis dreifache

- Oury Jalloh konnte bei Brandausbruch nicht fliehen, weil er an allen Vieren an seine Liege gefesselt war. Ist das höchstmöglicher Stress?

- In einer solchen tödlichen Bedrohung schüttet der Körper das Notfallhormon Adrenalin aus der Nebenniere massiv über das venöse Blut direkt zum Herzen aus. Dabei übersteigt die Adrenalinkonzentration die von Noradrenalin erheblich und zwar umso mehr je länger der Todesstress, die Agonie, überlebt wird. Die dann im Blut aber auch im Urin feststellbaren Konzentrationen sind um Faktor 100 bis 1000 höher als die bei „normalem Stress“ festgestellten.

- Was haben Sie heraus bekommen?

- Dass in Oury Jallohs Urin keine Zeichen einer tödlichen Stresseinwirkung nachweisbar waren. Blut konnte nicht gemessen werden. Bei der angenommenen Überlebenszeit von 6-7 Minuten nach Brandausbruch und Brandverletzungen wäre aber mehr Adrenalin als Noradrenalin zu erwarten gewesen. Und daraus war aus meiner Sicht und Erfahrung zu schließen, dass die Überlebenszeit sehr kurz gewesen sein muss. Er muss gestorben sein, bevor das Adrenalin dorthin gelangen konnte. Damit stehen auch die Aussagen von Zeugen in Frage, wonach Oury Jalloh noch nach Ausbruch des Feuers über die Gegensprechanlage mit der Leitstelle des Reviers kommuniziert haben soll.

- Er soll angeblich "Feuer, mach mich los" gerufen haben. Tatsächlich war er schon tot, als das Feuer ausbrach?

- Er war bei Ausbruch des Feuers höchstwahrscheinlich noch nicht tot, aber möglicherweise ohne Bewusstsein. Bei tödlicher Stresseinwirkung, wenn das Adrenalin aus der Nebenniere ins Herzblut gerät, geht es nach etwa zwei oder drei Körperumkreisungen des Blutes durch die Niere. Das zeigen unsere Untersuchungen an Verstorbenen, die gewaltsam zu Tode gekommen waren. Das ereignet sich im Bereich von einer Minute sag ich mal, wir können es ja nicht experimentell nachvollziehen. Das heißt, seine Überlebenszeit war sehr sehr kurz, aber dass er bei Brandlegung noch nicht tot war, beweisen die bei der Obduktion gefunden sehr geringen Rußspuren im Körper von Oury Jalloh.

- Wenn er bewusstlos war, als das Feuer ausbrach, kann er sich nicht selbst angezündet haben.

- Ich habe damals im Magdeburger Verfahren als Sachverständiger schon daran gezweifelt. Denn das hätte bedeutet, dass er zumindest so, wie das von Zeugen behauptet worden war, einer Exposition von toxischen Brandgasen ausgesetzt gewesen wäre, und zwar über längere Zeit. Damals war von bis zu 20 Minuten offiziell die Rede. Und das hätte bedeutet, dass er den toxischen Brandgasen des Rauches ausgesetzt gewesen wäre. Die toxikologischen Befunde haben aber keinen Nachweis der typischen giftigen Verbindungen wie Kohlenmonoxid, Blausäure u.a erbracht. Und auch keinen Nachweis von typischen Brandbeschleunigern wie z.B. Benzin. Ich habe damals auch die Frage gestellt, wie ein mit drei Promille hochgradig alkoholisierter Mensch mit einer nachgewiesenen Kokainaufnahme in der Lage gewesen sein soll zu überlegen, da an der Decke ist ja ein Rauchmelder, jetzt mach ich ein Feuerchen, aber wie lässt sich die Matratze anzünden? Dass er die Matratze aufschlitzen und das darin befindliche Material herausziehen muss, weil es sich entflammen lässt…

- Mit seitwärts an der Liege gefesselten Händen.

- Nun gut, aber das zu beurteilen war nicht meine Aufgabe. Aber das hab ich damals schon immer in Zweifel gezogen. Und die Staatsanwaltschaft hat das wohl nicht so akzeptiert. Aus meinen Ausführungen müsste eigentlich klar geworden sein, dass eine unterlassene Hilfeleistung zeitlich gar nicht möglich gewesen wäre.

- Hat das Gericht Sie nicht verstanden?

- Die Frage, ob das Gericht mit seinen Prozessbeteiligten meine Ausführungen bis in die letzte Konsequenz verstanden haben, kann ich nicht in toto beantworten. Es gibt welche, die verstehen das schneller und es gibt welche, die verstehen es schlechter. Ich denke, dass das Gericht bei meiner mündlichen Gutachtenserstattung natürlich nicht die Grundlage dieser ganzen Stoffwechselsituation erkannt hat. Es ist vielleicht in dieser Kürze der Zeit nicht leicht nachvollziehbar, was diese Stressphysiologie betrifft. Das Landgericht hat die Kurzzeitigkeit des Überlebens aber angenommen. Hat daraus im Ausschlussverfahren sein Urteil gebildet. Es ist jetzt nicht meine Aufgabe darüber zu urteilen.

- Polizei und Staatsanwaltschaft waren von Anfang an von versehentlichem Suizid ausgegangen. In andere Richtungen wurde nicht ermittelt. Deshalb Ausschlussverfahren: Gesucht wurde eine Todesursache, die selbst verschuldet war. Er soll sich mit dem Kopf über die Flamme gebeugt, diese eingeatmet haben und daran erstickt sein. Immerhin entstanden dem Dessauer Staatsanwalt im Verlauf der Verfahrens Bedenken, die er in einem neuen Ermittlungsverfahren gegen Unbekannt wegen Mordes zerstreuen wollte. Wurden Sie in dieses Verfahren einbezogen?

- Ja. Prof. Bohnert und ich sollten ein Gutachten zu der Frage erstellen, welche Untersuchungshandlungen erforderlich und geeignet sind, die Frage aufzuklären, ob der Brand von Dritter Hand gelegt wurde. Wir sollten dabei ausdrücklich die Feststellungen des Magdeburger Urteils unberücksichtigt lassen, also sozusagen ganz von vorne anfangen. Das Gutachten haben wir im Februar 2015 schriftlich formuliert und der Staatsanwaltschaft vorgelegt. Mit vier verschiedenen denkbaren Szenarien, die experimentell überprüft werden sollten. Darüber hinaus haben wir damals in unserem Gutachten ausdrücklich empfohlen, dass alle beteiligten Wissenschaftler oder Sachverständige an einem runden Tisch sitzen und den Versuchsaufbau gemeinsam planen sollten. Das war unsere finale Empfehlung.

- Was wurde aus Ihrem Vorschlag?

- Nichts, obwohl ich ja selber noch versucht habe, Orte für die Experimente zu finden. Man wollte ja nicht mehr nach Sachsen-Anhalt in das Institut für Feuerwehr-Forschung gehen. Aus naheliegenden Gründen. Wegen der möglichen Befangenheit. Ich habe damals im Auftrag der Staatsanwaltschaft Erkundigungen eingezogen, wer denn für ein solches Experiment noch in Frage käme, hatte mit dem Karlsruher Institut Kontakt aufgenommen, denn es musste ja ein Brandsachverständiger her, doch dann brach erst mal die Kommunikation mit der Staatsanwaltschaft ab. Bis zu dieser Einladung, am Brandversuch des Herrn Dr. Zollinger Mitte August 2016 in Dippoldiswalde bei Dresden teilzunehmen. Zollinger nahm alle Versuchsaufbauplanungen selber vor.

-  Sie hatten sich einen Runden Tisch gewünscht, aber der kam nicht zustande. Stattdessen der besagte Brandversuch, durchgeführt vom Institut für Brand- und Löschforschung aus NRW und dem Schweizer Brandexperten Dr. Kurt Zollinger. Sie wurden gebeten, sich an der Auswertung des Versuchs zu beteiligen. Was fanden Sie heraus?

- An der Diskussion der Ergebnisse nahmen acht Personen teil, sechs Wissenschaftler und zwei Staatsanwälte. Von Expertenseite her, von Seiten der Brandexperten, stellte sich klar heraus, dass das finale, in der Zelle 5 vorgefundene Brandbild, nicht ohne Brandbeschleuniger entstanden sein kann. Dass Herr Jalloh in dieser Atmosphäre den Brandbeschleuniger noch eingeatmet hat eine längere Zeit, das haben wir ausgeschlossen. Und daraus resultiert ja auch meine nach wie vor bestehende persönliche Überzeugung, dass er sich nicht selber angezündet hat, mit der Entwicklung eines Feuers um ihn herum und der üblichen Reaktion danach. Da sind wir wieder am Anfang unseres Gesprächs: Die mangelnde Todesstresssituation, das nicht vorhandene Kohlenmonoxid-Hämoglobin und auch die fehlende Blausäure. Textil, Baumwolle zum Beispiel, führt ja auch bei Brand zur Blausäureentwicklung. Und deshalb habe ich damals in der letzten Besprechung mit den Sachverständigen gesagt, er muss bewusstlos gewesen sein, hat aber natürlich noch geatmet. Und dann hat ihn jemand angezündet. Vermeintlich tot. Das ist auch bis heute meine Überzeugung.

- Oberstaatsanwältin Heike Geyer aus Halle sah das anders. Sie stellte das Ermittlungsverfahren wegen mangelndem Anfangsverdacht ein. Die Experten seien sich uneinig gewesen in der Beurteilung. Angeblich sei die ganze Bandbreite von Suizid bis Tötung durch Dritte vertreten worden. Stimmt das?

- Nein. Wir Sachverständige machen ja unsere Äußerungen und auch unsere Wortfindungen immer so, dass man die Sicherheit auf seiner Seite hat. Der Brandsachverständige kann etwas zur Feuerentwicklung sagen. Der Mediziner, der Toxikologe können etwas zu den Befunden sagen. Der Ingenieur kann etwas zu den zeitlichen Verhältnissen sagen. Das heißt, wir haben ein Gesamtergebnis, aber die Lösung des Falls ist keine medizinische, sondern eine kriminalistische Frage. Wenn ein Wissenschaftler am Ende sagt, ich kann dies oder das nicht ausschließen, sagt das nichts aus über die Wahrscheinlichkeit.  Er hat sich nur abgesichert. Aufgrund der Tatsachen, aufgrund der Befunde, bezogen auf Oury Jalloh sage ich, dass es so gewesen sein muss, wie ich eben skizziert habe. Das ist meine persönliche Meinung.

- Wie haben Sie auf die Einstellung des Verfahrens reagiert?

- Ich hab die Einstellung des Verfahrens persönlich als überraschend empfunden. Weil wir alle der Meinung waren, dass eben die Selbsttötung weniger in Betracht kommt als ein anderer Tatablauf. Und dass die Staatsanwaltschaft aufgrund dieser Basis neue Befragungen und neue Ermittlungen vornehmen müsse.

- Was kann in der Zelle 5 geschehen sein? Oberstaatsanwalt Bittmann, der nicht mehr zuständig ist, geht von einer Vertuschungstat aus, möglicherweise nach Misshandlungen durch Polizeibeamte.

- Das ist genau das, was Herr Bohnert und ich in unseren vier Arbeitshypothesen beschrieben haben. Eine traumatische Einwirkung vor dem Tod. Eben deshalb auch mein Begriff „vermeintlich tot“. Wenn er halt bewusstlos ist. Oder im Sterbevorgang. Und dann wird er angezündet. Aber dann kann er es nicht mehr selber gewesen sein. Wenn er bewusstlos ist, kann er sich nicht anzünden. Das ist doch nun eindeutig. Das muss jeder Jurist und jeder Laie verstehen. Wir haben auch diskutiert, ob es mehrere Brandherde gab, Brandausbruchsstellen. Mehrere Brandherde kann er nicht selbst gelegt haben. Da sind ja verschiedene Varianten möglich. Ich meine, das ist Aufgabe der Justiz, das herauszufinden.

Veröffentlicht am 26.03.2018 auf mdr.de

 

Wer ist Prof. Kauert:
Universitäts-Professor em. Dr. rer. nat. Dr. med. habil. Gerold Kauert, bis zu seinem Ruhestand Leiter des Instituts für Forensische Toxikologie am Klinikum der Joh. Wolfgang Goethe Universität Frankfurt/Main war Gutachter im Verfahren vor der 1. Großen Strafkammer des Landgerichts Magdeburg gegen Andreas S., Dienstgruppenleiter des Dessauer Polizeireviers Wolfgangstraße. Als Toxikologe untersuchte und begutachtete er die gesamten Leichenasservate der Zweitsektion in Frankfurt. Wegen seiner wissenschaftlichen Arbeiten über körpereigene Stresshormone in Blut, Urin, Rückenmarksflüssigkeit und Gewebe bat ihn die Magdeburger Kammer um seine Interpretation der Adrenalin- und Noradrenalinwerte.

Wie lautete das Magdeburger Urteil:
Am 13.12.2012 verurteilte die 1. Strafkammer des Landgerichts Magdeburg Andreas S. wegen fahrlässiger Tötung zu einer Geldstrafe von 10.800 Euro. Er habe, so das Gericht, aufgrund seines fahrlässigen Verhaltens Oury Jallohs Suizid nicht verhindert. Das Urteil stand nicht am Ende einer lückenlosen Beweiskette, sondern war Ergebnis eines Ausschlussverfahrens.

Das Ermittlungsverfahren wegen Mordes:
Vor Beendigung des Magdeburger Verfahrens begann die Staatsanwaltschaft Dessau ein neues Ermittlungsverfahren gegen Unbekannt wegen Mordes, das ausdrücklich ohne Vorgaben und ohne Tabus geführt werden sollte. Im August 2017 stellte die Staatsanwaltschaft Halle dieses Ermittlungsverfahren ein. Die Angehörigen Oury Jallohs beschwerten sich beim Generalstaatsanwalt und stellten Strafantrag gegen Dessauer Polizeibeamte. Generalstaatsanwalt Jürgen Konrad zog das Verfahren an sich und wies die Beschwerde zurück. Die Angehörigen versuchten beim Oberlandesgericht Naumburg die gerichtliche Entscheidung zu erzwingen, das OLG lehnte den Antrag am 23.10.2019 ab. Am 24.11.2019 reichten die Angehörigen wegen Verletzung ihrer Grundrechte Beschwerde beim Bundesverfassungsgericht ein.